Ansteckend: Die Coronakrise als Chance für Querdenkerinnen

Corona als Türöffner für Querdenkerinnen? Die Krise weckt die Sehnsucht nach Sicherheit und Vertrautem. Die Renaissance der Jobsicherheit ist auf den ersten Blick der Querdenkerhasen Tod. Oder könnte es vielleicht doch ganz anders kommen?

 

Sie tut es wieder: Anne M. Schüller, profilierte Fachbuchautorin, tippt wieder an einem neuen Buch. Dabei könnte sie sich eigentlich getrost auf ihren Lorbeeren ausruhen: Schweizer Wirtschaftsbuchpreis. Grosser Preis des Mittelstandes. Managementbuch des Jahres. Weil ich weiss, dass das Neue irgend etwas mit Querdenken zu tun hat und ich das Thema spannend finde, habe ich mir gedacht, ich schreibe einfach wieder einmal einen Aufsatz.

 

Dem Mainstream davonfliegen

Fast ein halbes Jahrhundert flogen Skispringer auf der ganzen Welt im eleganten Stil eines Flugzeugs mit paralleler Skiführung um die Wette, bis in den späten 1980er Jahren Jan Boklöv mit einer zufällig entdeckten Änderung die Sportart revolutionierte. Der bis dahin mässig erfolgreiche Schwede sprang mit seinen zu einem „V“ angewinkelten Beinen zwar nicht so schön, aber um Welten weiter als die Konkurrenz.

Boklöv wehte ein eisiger Wind entgegen, man verunglimpfte seine Erfindung als Froschstil, Konkurrenten spotteten und die Wettkampfrichter bestraften ihn mit tiefen Haltungsnoten. Doch er hielt daran fest, feilte unbeirrt weiter an seiner Erfindung, brach sich im Training mehrmals die Schulter – und gewann 1989 den Gesamtweltcup.

«Um zu lernen und etwas Neues auszutesten, musst du eben schon mal über die Grenze hinausgehen», meinte Boklöv lakonisch.

 

Die Nase im Wind

So könnte man noch manche Geschichte erfolgreicher Menschen erzählen, die trotz starkem Gegenwind die ausgetretenen Pfade des Mainstreams verliessen und Erfolge feier(te)n. So wie Onlinepionier Jeff Bezos, der unser Einkaufsverhalten revolutioniert. Elvis Presley, der den Rock ‚n‘ Roll erfand. Coco Chanel, die mit ihrer funktionalen Mode vor über 100 Jahren Wegbereiterin für ein neues Selbstbewusstsein modebewusster Frauen war.

Menschen, die nicht das taten, was «man» schon immer tat.

 

Alltagsheldinnen

Es gibt zum Glück jede Menge pfiffiger Quer- und Andersdenkerinnen, die abseits der grossen Bühnen mit ihren Ideen und unkonventionellen Lösungen Duftmarken setzen und Dinge bewegen, oft im Kleinen und im Verborgenen. Hunderte, ja Tausende namenloser Querdenkerinnen, die sich ohne grosses Federlesen in ihrem Berufsalltag die Freiheit nehmen und eingebunden in Konzernstrukturen oder staatliche Institutionen ihrer Kreativität Auslauf gewähren. Die ihre Ellbogen dafür einsetzen, um etwas zu bewegen und kreative Lösungen durchzuboxen – und nicht in erster Linie, um Karriere zu machen. Viele Unternehmen fahnden mittlerweile gar in Stelleninseraten nach ihnen. Doch meinen sie das wirklich ernst? Man darf daran zweifeln.

[Übrigens: Ich verwende ausschliesslich die weibliche Form. So bleibt der Text einfacher lesbar. Ich hätte natürlich auch immer nur die männliche Form nutzen können. So wie es immer war. Aber das wäre dann doch ziemlich einfach und konform, finden Sie nicht auch?]

 

Im Korsett

Die Rahmenbedingungen für Querdenkerinnen gleichen in vielen Unternehmungen einem eng geschnürten Korsett. Man zwängt jede Menge adipöser Regelwerke in Form von Merkblättern, Reglementen, Anträgen und Prozessen durch die Ösen und schnürt der Lust auf Mitdenken, Gestalten und Entwickeln die Luft ab. Unnötige Hierarchien, doppelt und dreifache Absicherungen und eine Vielzahl von Fachstellen für oder gegen irgendetwas geben dem letzten Funken Kreativität den Rest. So wird Verantwortung verschleiert und gute Ideen so weit verwässert, bis sie als kümmerliches Rinnsal ihrem Erstickungstod entgegenmodern. So wie in der Coronakrise die Virologen die Welt zu regieren scheinen, haben in manchen Firmen Juristen, Einkauf, Datenschutzbeauftragte, Sicherheitsverantwortliche und Betriebsräte das Zepter übernommen.

 

In der Algorithmenfalle

Entgegen der Beteuerungen hochtrabender Visionen und schwülstiger Leitbilder bleiben die Türen in manchen Unternehmen für nonkonforme Menschen verbarrikadiert. Deren Anstellungsgelüste werden schon im Keim erstickt – durch eine engmaschige Vorselektion, die auf Streamline-CV’s ausgelegt ist. So manches Stelleninserat enthält kein Anforderungsprofil, sondern vielmehr regelrechte Anforderungskataloge mit gut und gerne einem Dutzend Kriterien. Wenig erfahrene Recruiter gehen in der Vorselektion auf Nummer sicher. Ein Unterbruch im Lebenslauf, ein Knick im Karriereweg? Habe ich dich erwischt, weg mit dir. Da helfen den Querdenkerinnen auch die Algorithmen nicht. Denen werden ja geradezu magische Lernerfolge zugerechnet (KI, AI, Machine Learning und Co lassen grüssen), letztlich sind sie aber nichts weiter als die digitalen Erfüllungsgehilfen ihrer Meister aus Fleisch und Blut. Sie machen das, wozu sie programmiert sind.

Wer schablonisierte Wunschprofile eingibt, erhält auch solche.

 

Hoffentlich ansteckend

Mit dem Ausbruch des Coronavirus geschah sonderbares. In einer nicht für möglich gehaltenen Konsequenz wurden Wirtschaft und Gesellschaft verlangsamt. Die Politik bediente sich des Notrechts und traf Entscheidungen in einem atemberaubenden Tempo. Beschlüsse, die normalerweise monate-, wenn nicht gar jahrelang hin und her diskutiert (und oft zerredet) worden wären, wurden binnen weniger Tage umgesetzt. Man höre und staune. Klar wurden dabei auch Fehler gemacht, wie man später sehen wird. Aber irgendwie ist es faszinierend mitzuerleben, was plötzlich möglich ist.

Stark, wie die vermeintlich träge Verwaltung Entscheide fällt, kommuniziert und umsetzt. In der als gemächlich belächelten Schweiz wurden funktionierende Wirtschaftshilfen in zwei Wochen aus dem Ärmel geschüttelt – erstaunlich unbürokratisch, durchaus mutig und mit Augenmass. Der öffentliche Verkehr stampfte einen Fahrplanwechsel plötzlich binnen drei Wochen aus dem Boden – etwas, was sonst Monate dauert. Geschäfte setzen Onlineshops auf, Restaurants Take-Aways, Gartencenter Drive-Through-Abholstationen und Frisöre gaben Tipps auf YouTube zum selber Haare schneiden – Versand der dafür nötigen Pflegeprodukte inklusive. Personal wurde in Rekordzeit beschafft, sei es in Onlineshops, der Logistik oder in Betrieben der Gesundheitsbranche.

Faszinierend, wie viel Entschlossenheit, gesunder Menschenverstand und wie viele Spurenelemente von Querdenkertum in unserer vom wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahrzehnte verwöhnten und gesätigten Gesellschaft steckt. Man muss diese Energie, diese Tatkraft einfach nur entfesseln. Hoffentlich bleiben wir noch lange von diesem besonderen «lasst-uns-es-einfach-tun-Virus» befallen.

 

Geht ja

In den Unternehmen hat der Coronatsunami eine breite Schneise durch die bis ins Detail ausgeklügelten Abläufe geschlagen. Unter Zeitdruck musste gehandelt und improvisiert werden. Die innerbetrieblichen Bedenkenträgerinnen verloren an Einfluss, urplötzlich waren ganz andere Qualitäten gefragt: Kreativität, das Undenkbare denken, Handlungsstärke beweisen, Risiken eingehen und Neuland entdecken. Die Ausnahmesituation legte brachliegende Querdenkerfähigkeiten frei.

Das Virus zwang viele Unternehmen, sich auf das Wesentliche zu fokussieren und das Einfache wieder neu zu entdecken. Budgetprozesse wurden vereinfacht, Beschaffungswege abgekürzt, Zielvereinbarungsgespräche verschoben und Projekte ausgesetzt oder ganz gestrichen.

Home Office, in vielen Unternehmen als Feigenblatt für moderne Anstellungsbedingungen vorgezeigt, in Tat und Wahrheit aber oft stiefmütterlich behandelt und auf die lange Bank geschoben, funktionierte plötzlich. Einfach so. Was früher einen mehrmonatigen Pilotversuch verbunden mit zermürbenden Begleitmassnahmen (Mitbericht der Datenschützerinnen, gescheite Tipps vom BGM, Warnungen vom Betriebsrat, ausführliche Reglemente, Trainings, Beschaffung einheitlicher Head Sets, Auswertung, Berichte und Anträge) bedingt hätte, wurde kurzerhand in wenigen Stunden hochgefahren und umgesetzt. Wie cool ist das denn?

Das Faszinierende dabei: Es funktionierte. Tipps und einige grundsätzliche Regeln für den Umgang wurden einfach nachgeschoben oder man behalf sich untereinander mit den selber gemachten Erfahrungen. Trial and error, einfach mal tun und schauen, ob es funktioniert. Auf die Chancen fokussieren statt auf die Gefahren. Für Querdenkerinnen nichts Neues. Möge uns diese Vorgehensweise noch lange erhalten bleiben.

Auch durch die interne Kommunikation ging vielerorts ein Ruck. Videos, viele davon Marke Eigenbau, wurden zu einem zentralen Element in der Unternehmenskommunikation. So sendeten die Verkehrsbetriebe Zürich zweimal wöchentlich ihren Corona-Talk, ein Videointerview mit einer Schlüsselperson. Simpel, schnell und effektiv, produziert mit dem Smartphone in gerade einmal zwei Stunden. Mit ihren Videos konnten Menschen zu Menschen sprechen, ein wichtiges Element in der Krisenkommunikation. In Normalzeiten hätte man solche Formate wohl in aller Ruhe von einem Projektteam unter Einbezug diverser Stakeholder ausarbeiten lassen.

Auch hier waren Querdenkerinnentugenden im Spiel.

 

Treibstoff

Querdenkerinnen sind starke Charaktere. Sie polarisieren, sind eigen, manche von ihnen haben vielleicht sogar etwas „Schräges“ an sich – auch deshalb schauen wir fasziniert hin. Sie sind auf ihre Art unverwechselbar und bisweilen auch streitbar, auf jeden Fall eine Marke. Sie zeichnet ihre Kreativität aus, die Gabe, Sachverhalte und Lösungsansätze von verschiedenen, auch unkonventionellen Seiten zu betrachten. Querdenkerinnen sind neugierig und haben sich die kindliche Fähigkeit bewahrt, Fragen zu stellen und Dinge, die für fast alle klar und als gegeben vorausgesetzt werden, zu hinterfragen. Damit macht man sich nicht überall beliebt, auch weil man den bequemen Trott in Frage stellt. Auch deshalb sind Querdenkerinnen selbstbewusste Persönlichkeiten, die nicht allen gefallen wollen und sich eine gewisse Unabhängigkeit gönnen. Sie sind Dranbleiberinnen, die nicht so schnell aufgeben und begnadete „Trotzdemsagerinnen“. Man trifft sie an Veranstaltungen und Tagungen, von denen andere noch nie etwas gehört haben.

Diese Fähigkeien der Trotzdemsagerinnen sind nicht nur für Entrepreneure und in Start-ups nützlich. Nein: Sie müssten doch auch in grossen und traditionsreichen Organisationen gefragt sein. Gerade in der Nach-Corona-Ära, wenn es darum geht, Agilität, Kreativität und Entscheidungstempo hochzuhalten.

 

13 zauberschöne Chancen

Die in der Krise gemachten Erfahrungen sind eine wunderbare Chance für die Arbeitgeber, ihr Recruiting zu hinterfragen und bei bestehenden Mitarbeitenden verloren geglaubte Querdenkerinnentalente wieder zu entdecken und sie zu fördern. Und nicht von agil zu sprechen, sondern agiler zu werden. Warum nicht zum Beispiel so?

Querdenkerinnen sind unabhängig, haben etwas gewagt und sind dabei vielleicht – nein: vermutlich – auch schon mal gescheitert. Ihre Lebensläufe können schon mal ein paar Dellen drin haben, darum:

  1. Bei 5 Prozent aller Anstellungen (das ist weiss Gott nicht viel) ganz bewusst eine Person anstellen, die aus dem Raster fällt. Oder Jokerkarten an die Recruiter verteilen, damit sie pro Jahr 1,2, 5 oder 10 Personen anstellen können, bei welchen sie das Gefühl haben, dass diese das Unternehmen inspirieren und voranbringen könnten.

 

  1. Das Recruiterteam um eine Person ergänzen, die viel Erfahrung mitbringt und selber keinen gewöhnlichen Lebenslauf aufweist. Diese Person nach Perlen unter den zur Absage vorgesehenen Dossiers tauchen lassen – und durch gezieltes Hinterfragen den Horizont der gestandenen Recruiter erweitern.

 

  1. Auch mal bewusst nur befristet oder auf ein Projekt bezogen anstellen – Querdenkerinnen sind unabhängige Menschen und brauchen kein Netz und doppelten Boden.

 

Die letzten Jahre waren von Normierung geprägt: Einheitliche Prozesse. Einheitliche Vorgaben. Einheitliche Instrumente. Einheitlicher Einkauf. Einheitliche Profile. Wie soll da Kreativität leben und gedeihen? Den Menschen im Unternehmen Freiräume zurückgeben, sie vermehrt wieder selbst entwickeln und entscheiden lassen.

  1. Als Jahresziel die Reduktion interner Weisungen, Regeln, Abläufe und so weiter um sagen wir einmal bescheidene 15 Prozent ausgeben. Und bei der Messung der Zielerreichung nicht wieder neue Systeme etablieren, sondern auf Selbstdeklaration und Eigenverantwortung der Vorgesetzten vertrauen.

 

  1. Die Zahl und den Einfluss von Stabsstellen, Fachstellen und Abteilungen, die sich in den letzten Jahren zu heimlichen Unternehmensleitungen aufgeschwungen haben, reduzieren.

 

  1. Kompetenzen mitsamt viel stärkerer Entscheid- und Budgetkompetenzen wieder zurück in die Teams delegieren – einem bedingungslosen „Risikokapital“ inklusive. Damit können Mitarbeitende und Teams ohne Rechtfertigung neue Dinge ausprobieren. Diese Summe muss nicht hoch sein – allein schon die Geste und der damit verbundene Spirit zählt.

 

  1. Komplizierte KVP- bzw. Ideenmanagementprozesse abschaffen und etwas radikal Neues ausprobieren. Dabei bloss nicht auf Beratungsfirmen setzen – sondern auf die Ideen interner oder externer Querdenkerinnen.

 

Querdenkerinnen-Kompetenzen stärken:

  1. Querdenkerinnen sind neugierige Menschen und suchen nach neuen Lösungsansätzen. Das funktioniert kaum, wenn man immer im selben Teich schwimmt. Der Austausch mit anderen Firmen, Branchen oder Institutionen (Trainings, Job-Rotation, Schnupperwochen) erweitert den Horizont.

 

  1. Das Weiterbildungsreglement verbrennen und neu schreiben: Auf einer A4-Seite. Dabei den jahrzehntelang gepredigten direkten Nutzen einer Weiterbildung für den Job komplett neu, oder eben: quer, denken. Die Teilnahme an Kursen, Fachtagungen und Weiterbildungen, die nichts mit dem bisherigen Arbeitsumfeld zu tun haben, ermöglichen und fördern. Oder gleich selbst etwas auf die Beine stellen, das auch Externen offen steht und so das Wissen ins Haus holen.

 

Weil „weiche“ Faktoren in Wahrheit knallhart sind:

  1. Querdenkerinnen sind Macherinnen und Gestalterinnen. Deren Ideen brauchen Auslauf und man muss schon auch mal verrückte Dinge ausprobieren. Darum die Leistung der Mitarbeitenden vor allem auch daran messen, ob neue Ideen eingebracht und ausprobiert wurden. Ob sie auch funktioniert haben? Nebensächlich.

 

  1. Querdenkerinnen schätzen ein kreatives Umfeld. Kreativität kann nur in heiteren Hirnen entstehen. Darum sind eine lachende Unternehmenskultur und Spass an der Arbeit wichtige Erfolgsfaktoren. Nur Menschen anstellen, die gerne Lachen. Humor und somit den Beitrag der Mitarbeitenden zu einer entspannten und leistungsorientierten Kultur in den Jahresgesprächen thematisieren.

 

  1. Eine Lustkultur etablieren. Der Schlüssel dazu: Das Wort trotzdem. Es ist das Zauberwort für Querdenkerinnen und die Antwort auf das „A-Wort“ (nein nicht was Sie jetzt denken): Das Aber, das jede Lust, Neues zu entdecken und jede Idee auf eine perfide Weise in den Sand tritt. Darum: Das T-Wort in allen Meetings inflationär verwenden – und für das A-Wort ein Phrasenschweinkässeli einrichten.

 

  1. Eine Kultur des Zurückruderns entwickeln. Heisst: Sich bei Entscheidungen im Zweifelsfall bewusst für das Tun entscheiden und lieber zurückrudern, als es nicht versucht zu haben.

 

Viel Spass beim Ausprobieren und:

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